Grad der Berufsunfähigkeit – Worauf kommt es an?
Was sagen die Versicherungsbedingungen?
Die Versicherungsnehmerin verlangte Leistungen aus einer Berufsunfähigkeits-Zusatzversicherung. Nach den allgemeinen Versicherungsbedingen des Versicherers waren Leistungen im Falle mindestens 50 %iger Berufsunfähigkeit zu erbringen. Ausweislich dieser Bedingungen sollte Berufsunfähigkeit vorliegen, wenn die versicherte Person infolge Krankheit, Körperverletzung oder Kräfteverfalls, die ärztlich nachzuweisen sind, voraussichtlich mindestens sechs Monate ununterbrochen außer Stande ist, ihren Beruf, so wie er in gesunden Tagen ausgeübt worden ist, weiter auszuüben.
Bei Vertragsabschluss war die Versicherungsnehmerin vollschichtig als angestellte Hauswirtschafterin in einer Münchener Anwaltskanzlei beschäftigt. Ihre Aufgaben bestanden im Wesentlichen darin, die Kanzleiräume zu putzen, Einkäufe zu erledigen und den Mittagstisch für ca. 15 bis 30 Personen zuzubereiten. Zeitnah nach Vertragsabschluss stürzte die Versicherungsnehmerin eine Treppe hinunter und war danach für längere Zeit krankgeschrieben. In der Folgezeit befand sie sich unter anderem aufgrund psychischer Probleme sowie Rücken- und Wirbelsäulenbeschwerden in ärztlicher Behandlung.
Vor diesem Hintergrund berief sich die Versicherungsnehmerin darauf, seit dem Treppensturz in ihrem Beruf zu mehr als 50 % berufsunfähig zu sein. Aufgrund ihrer erheblichen Rückenbeschwerden könne sie nicht mehr putzen, keine schweren Einkäufe mehr tragen und auch nicht mehr mehrere Stunden täglich in der Küche arbeiten. Sie könne lediglich drei Stunden am Tag als Haushaltshilfe (leichte Helfertätigkeit) arbeiten. Seit 2011 sei sie in einem Privathaushalt tätig. Der Versicherer weigerte sich, eine Berufsunfähigkeitsrente zu gewähren. Die Versicherungsnehmerin klagte erfolglos durch zwei Instanzen. Erst der BGH gab ihr recht.
Nicht der zeitliche Anteil einer einzelnen Tätigkeit ist entscheidend
Die Vorinstanzen und die jeweils hinzugezogenen Sachverständigen hatten angenommen, dass die aus den Erkrankungen der Versicherungsnehmerin resultierenden Funktionseinschränkungen nur mit 20 % zu bewerten seien. Der BGH entschied jedoch, dass die Sachverständigen ihr Augenmerk nicht nur darauf richten durften, welchen zeitlichen Anteil eine einzelne Tätigkeit an der Arbeitsleistung des Versicherungsnehmers hat, sondern auch in den Blick hätten nehmen müssen, in welchem Ausmaß sich ein Wegfall der gesamten Einzeltätigkeit auf die (Gesamt-)Berufstätigkeit in ihrer konkreten Ausgestaltung auswirkt.
Wesentlicher Bestandteil der konkret ausgeübten Berufstätigkeit
Im vorliegenden Fall war wesentlicher Bestandteil der von der Versicherungsnehmerin konkret ausgeübten Berufstätigkeit, wie sie in gesunden Tagen ausgestaltet war, neben Reinigungsarbeiten und einigen weiteren untergeordneten Tätigkeiten wie z.B. Blumenpflege der vollständige Betrieb der kanzleieigenen Kantine. Dazu gehörte nach dem von der Klägerin vorgelegten Anstellungsvertrag und ihrem Prozessvorbringen die vollständige und eigenständige Planung und Durchführung des Mittagessens (für ca. 15-30 Personen) sowie die Durchführung des dafür notwendigen Einkaufs. Aufgrund des ihr vorgegebenen Budgets (3 € bis 4 € pro Tag und Mitarbeiter) sowie des zur Verfügung stehenden Zeitrahmens (durchschnittlich 200 Essen pro Woche) musste die Versicherungsnehmerin wöchentlich im Großmarkt einkaufen, in dem viele Lebensmittel wie Milch, Kartoffeln, Reis und Mehl nur in Großpackungen von mehr als 5 bis 25 kg zu erwerben waren. Diese Einkäufe musste dann in der Kanzlei vom Fahrzeug über eine Treppe in den Keller gebracht werden, wobei dieser Weg 15- bis 20-mal zurückzulegen war.
Der BGH hielt fest, dass dieser wöchentliche Einkauf als untrennbarer Bestandteil der von der Versicherungsnehmerin arbeitsvertraglich geschuldeten Versorgung der Mitarbeiter durch die von ihr selbständig zu führende Kantine anzusehen ist. Soweit der Versicherungsnehmerin die notwendigen Einkäufe nicht mehr möglich waren, war ihr auch die weitere Führung der Kantine nicht mehr möglich. Sie hätte dann ihre arbeitsvertraglichen Pflichten in diesem Bereich vollständig nicht mehr erfüllen können.
Klarheit bei Bemessung des Grades der Berufsunfähigkeit
Damit ist nun höchstrichterlich entschieden, dass für die Bemessung des Grades der Berufsunfähigkeit nicht nur auf den Zeitanteil einer einzelnen Tätigkeit abgestellt werden darf, die der Versicherungsnehmer nicht mehr ausüben kann (hier: Tragen schwerer Lasten), wenn es sich hierbei nicht um eine abtrennbare Einzeltätigkeit handelt, sondern diese untrennbarer Bestandteil eines beruflichen Gesamtvorgangs ist.